‚Nein, das macht mein Kind nicht.“ – „Das habe ich noch nicht gehört, dass ein Kind sich so verhalten soll.“ – „Übertreibst du da nicht etwas?“
Solche und andere Sätze habe ich oft gehört, wenn ich über Alltagssituationen mit meinem Sohn (ich nenne ihn hier Tom) gesprochen habe. Er war ein Jahr alt und wir gingen in einen Spielkreis und ins Kleinkinderturnen, bis er mit drei Jahren in die Kita kam und wir so die beiden Aktivitäten nicht mehr besuchen konnten. Natürlich unterhalten sich die Eltern während des Spielkreises und des Turnens. Dieser Austausch ist wichtig und erwünscht. Doch bei mir war der Austausch irgendwie immer etwas anders. Die anderen Eltern verstanden häufig nicht, wovon ich eigentlich sprach. Ihr Kind hat das Verhalten, welches mein Sohn gezeigt hat, nämlich nicht gemacht. Mein Kind war anders als die anderen Kinder.
Die Alltagssituationen sind anders als bei anderen
„Bei uns ist Zähne putzen ganz furchtbar. Tom weint, schreit und haut dabei. An Zähne putzen ist gar nicht zu denken, ich bin mit festhalten beschäftigt und habe nur zwei Arme! Und dabei will ich das gar nicht, ich möchte ihm nur die Zähne putzen. Wie macht ihr das denn?“
Tja, und die anderen kannten das so nicht. „Bei uns ist das leicht. Wir singen immer das Zahnputzlied und dann geht das zackig.“ oder „Ich glaube, du übertreibst. Kein Kind macht so einen Aufstand, wenn es Zähne putzen soll.“ und „Vielleicht zahnt er. Das hatte ich auch schon, da hat meiner Kleinen der Mund einfach weh getan. Das legt sich in ein paar Tagen.“ waren die Antworten, dich ich bekam. Bei Tom hat das Ganze allerdings länger als ein paar Tage gedauert – es war jeden Morgen und jeden Abend so über einen Zeitraum von vielen Monaten.
Als Tom zwischen 2 und 2 ½ Jahre alt war, hat er oft nachts angefangen zu weinen und teilweise auch zu schreien. Es waren auch keine Alpträume, denn er hat dafür zu lange geweint und ließ sich nicht beruhigen. In manchen Nächten habe ich versucht ihn auf dem Sofa zu beruhigen, wo er von einer Seite zur anderen krabbelte und nach mir schlug, dabei weinte er durchgängig. Ich war ratlos. Irgendwann kehrte die Situation völlig, er guckte mich an, kam in meine Arme, weinte und schlug nicht mehr und sagte: „Tom müde. Ich will Bett.“ Das geschah von Jetzt auf Gleich und ich wusste nicht, wieso die Situation und sein Verhalten plötzlich ganz anders waren. „Das habe ich noch nicht gehört. Wieso macht Tom das?“, „Er schlägt nach dir, mitten in der Nacht? Das klingt komisch.“ und „Keine Ahnung, was du da tun kannst. Geh doch mal zum Kinderarzt mit ihm, denn das ist doch nicht normal. Mein Sohn macht das nicht und ich kenne auch keinen, der mir sowas schon mal erzählt hat.“ Auch hier konnte mir keiner weiterhelfen oder meine Situation verstehen, denn keines der anderen Kinder machte das, was mein Tom tat.
Tom war inzwischen etwas über 3 Jahre und mein Mann wollte mich zum Bahnhof fahren. Natürlich kam Tom mit. Doch er ließ sich nicht anschnallen. Er weinte und schrie im Auto und rutschte immer und immer wieder von seinem Kindersitz in den Fußraum. Gutes Zureden und Ablenken halfen dabei nichts. Irgendwann werden die Nerven dünner und die Geduld weniger. Schließlich wartet der Zug am Bahnhof auch nicht auf mich und wir können nicht losfahren, bevor Tom angeschnallt ist. Was also tun? Nach über 20 Minuten mit viel Geweine, Geschrei und mittlerweile auch Geschimpfe, konnten wir ihn dann doch anschnallen und losfahren- was für ein Stress. Wir waren schweißgebadet. Auch diese Situation kannte niemand unserer Freunde und Bekannte. „Meine Kleine liebt Auto fahren.“ Toll, das hilft mir ja…
Mein Kind ist (hoch)sensibel
Mittlerweile ist mein Sohn Tom fast 15 Jahre alt. All diese Situationen existieren nur noch in meiner Erinnerung. Und jetzt weiß ich, wieso er sich so verhalten hat, wie er es getan hat.
Mein Sohn ist sensibel. Er ist nicht hochsensibel, doch er ist viel sensibler als seine Mitmenschen und die Kinder mit denen er gespielt hat. Seine damaligen Freunde und Freundinnen sind alle nicht sensibel und haben sich dementsprechend auch nicht so verhalten, wie Tom es getan hat. Deshalb kannten die Eltern diese Situationen auch nicht, wie ich sie erlebt habe und ich konnte mich nicht mit ihnen darüber austauschen. Sie konnten kein oder wenig Verständnis haben, meinten oft, ich würde übertreiben, da ihr Kind sich (ganz) anders verhielt. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich meinem Kind viel besser helfen, es unterstützen und begleiten können, als ich es getan habe. Ich dachte manchmal, dass Tom nicht „normal“ ist, wusste allerdings auch nicht, was nicht stimmen könnte. Natürlich fühlte mich schlecht, weil nur ich solche Geschichten erzählte. Die Kinder meiner Freunde waren „lieb und brav“, sie ließen sich ihre Zähne putzen, sich umziehen, schliefen nachts und fuhren gerne Auto. Was war mit meinem Kind nicht in Ordnung? Wie oft war ich einfach hilflos, fühlte mich unverstanden und traurig.
Doch heute ist die Situation eine ganz andere. Mein Sohn Tom ist wunderbar und hat spezielle Fähigkeiten, die ich heute deutlich sehe. Es gibt viele (hoch)sensible Kinder und ich möchte alle Eltern hier ermutigen und bestärken: dein Kind ist wunderbar! Und falls du es jetzt noch nicht sehen kannst, irgendwann siehst du das Besondere bei deinem Kind.
(Hoch)sensibel, was ist das?
Ein Kind, das (hoch)sensibel ist, ist empfänglicher für alles was es von außen wahrnimmt. Bestimmte Filter im Nervensystem fehlen ihm und so nimmt es alles deutlicher und mehr wahr, als andere. Was ist das von außen? Das sind Geräusche, Gerüche, Lichter, Gefühle und Berührungen. Das (hoch)sensible Kind nimmt sie intensiver war, spürt sie intensiver und denkt mehr darüber nach.
Da diese Kinder Reize mehr aufnehmen als andere Kinder, sind sie auch schneller überreizt, müde, erschöpft und überfordert. Dann müssen sie dieser Überreizung irgendwie Luft machen und weinen oder schreien dann oft. Besonders bei jungen Kindern, die sich verbal nicht dementsprechend ausdrücken können, wie: „Ich brauche jetzt eine Pause, das ist mir gerade Zuviel.“, bleibt häufig die Variante des Weinens und Schreiens, – also ein Wutanfall. Kommt mir bekannt vor… Ist das Kind älter, zieht es sich öfter mal zurück oder spielt für sich alleine, um Ruhe zu finden.
Tipps für den Alltag mit deinem (hoch)sensiblen Kind
Wenn du erst einmal weißt, dass dein Kind (hoch)sensibel ist, kannst du entsprechend darauf reagieren und die wunderbaren Seiten an deinem Kind dabei sehen.
Dein Kind braucht mehr Zeit und Ruhephasen ohne neue Eindrücke, um das Erlebte verarbeiten zu können. Daher sind Zeiten, in denen es spielen, malen, basteln oder puzzeln kann, sehr wichtig. Ein ruhiger Ort zum Zurückziehen ist enorm wichtig.
Achte bei der Kleidung deines Kindes darauf, dass es keine störenden Nähte oder Aufnäher gibt. Lass dein Kind die Kleidung anprobieren und achte genau darauf, dass sich dein Kind darin wohl fühlt. Vielleicht kratzt oder stört doch etwas, vielleicht ist das Kleidungsstück auch zu eng- dein Kind wird es dir mitteilen. Vielleicht ist weite Kleidung für dein Kind angenehmer und eine Matschhose für die Kita ohne Träger.
Beim Zähne putzen kann eine ganz weiche Zahnbürste Erleichterung verschaffen und eine milde Zahncreme. Lass dein Kind ein paar verschiedene ausprobieren, damit es sich wohl fühlt und weder Zahnbürste noch Zahnpasta zu viel für dein Kind sind. Es kann auch helfen, dass zuerst dein Kind seine Zähne putzt und du noch einmal hinterher putzt, sodass dein Kind sich vorher in seinem Tempo an das Gefühl im Mund gewöhnen kann.
Ein Kita-Tag oder ein ereignisreicher Vormittag sind anstrengend. Sorge, wann immer du kannst dafür, dass ihr nach Hause lauft. Bewegung ist stressabbauend, daher ist der Spaziergang nach Hause sehr wirksam. Geht das nicht oder wart ihr gerade unterwegs, nimm dir ein paar Minuten Zeit, bevor ihr ins Auto steigt. Geh gemeinsam mit deinem Kind den Bürgersteig hoch und runter, macht den Hampelmann und hüpft wie ein Hase von einer Laterne bis zur nächsten. Bestimmt fallen euch selber noch die tollsten Sachen ein. So kann sich der Stress in der Bewegung entladen und dein Kind wird ruhiger. (Das beruhigt dich auch 😉)
Sorge bei Ausflügen oder Aktivitäten mit vielen Reizen und Eindrücken für Ruhepausen. Gehe etwas abseits, kuschele mit deinem Kind, esst etwas, schaut in den Himmel, sprecht über das, was das Kind gerade erlebt hat oder seid einfach zusammen ganz still. Achte hier darauf, was dein Kind gerade braucht.
Da dein Kind mehr Eindrücke wahr- und aufnimmt, kann es sein, dass nicht mit einer Gruppe spielt, sondern sich lieber auf ein Kind konzentriert. Vielleicht lädt es auch „nur“ ein Kind zu seiner Geburtstagsfeier ein. Das ist völlig ok! Dein Kind ist damit glücklich, nicht überfordert und kann so mit seiner Freundin oder seinem Freund in Ruhe spielen, ohne zu viele Reize aufzunehmen.
Für die Eltern eines (hoch)sensiblen Kindes
Grundsätzlich ist es enorm wichtig, dass du weißt, dass dein Kind nicht „nicht normal“ ist, sondern eine Besonderheit besitzt. Es kann natürlich schwer sein, wenn du nicht weißt, wieso dein Kind von Jetzt auf Sofort einen Wutanfall hat oder „normale“ Dinge nicht tut, doch dein Kind kann Emotionen ganz anders wahrnehmen und so ein enormes Verständnis für andere entwickeln. Es kann sich in andere Menschen hineinversetzen und sie verstehen. Das wird sich zeigen, wenn dein Kind älter ist und Worte dafür findet.
Mein Sohn ist jetzt fast 15 Jahre alt und jeden Tag darf ich das erleben. Es ist unglaublich, wie er andere Menschen betrachtet, ihre Worte aufnimmt und merkt, ob die Person das Gesagte so meint oder nicht. Oder dass er erkennt, wie sich eine andere Person wirklich fühlt, auch wenn diese das versucht zu verstecken. Was er wahrnimmt, wenn sich Erwachsene unterhalten, diskutieren oder streiten und das hinterfragt. Jedes Mal staune ich erneut darüber und bin dann sehr stolz auf Tom. Die anderen Kinder in seinem Alter können das nicht so wie er. Das sehe ich heute. Daher sei geduldig mit deinem Kind, die Besonderheit deines (hoch)sensiblen Kindes wird sich noch zeigen und du wirst dich wundervoll und stolz fühlen.
Wenn du Mutter oder Vater eines jungen (hoch)sensiblen Kindes bist, möchte ich dir eine wichtige Information geben: du bist die wichtigste Person für dein Kind. In der Welt deines Kindes, die voller Neuigkeiten, voller Gerüche, Geräusche und Gefühle ist, bist du der sichere Hafen. Es braucht dich, um sich sicher zu fühlen, um zur Ruhe zu kommen und seine Eindrücke verarbeiten zu können. Sei für dein Kind dieser Hafen, diese Sicherheit und diese Ruhe. Wie? Oben hast du schon einige Tipps gelesen und hier kommt noch einer: fühle die Liebe zu deinem Kind. Verbinde dich mit deinem Kind. Schau es an, sieh, was es tut, wovon es spricht und was es sagt. Nimm dir Zeit und werde selber ruhig. Vertraue dir. Du hast alles, was du brauchst, um dein Kind zu stärken und auf seinem Weg liebevoll zu begleiten.